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Günther Lehnert: Was kann ich mir unter Körpersprache vorstellen? Sind das große Gesten, die die Sprache ersetzen? Ist das so eine Art Pantomime?

Peter Rissmann: Jemand kommt auf sie zu, er tritt näher an sie heran, als ihnen angenehm ist. Sie weichen aus, treten ein, zwei Meter zurück, verschränken die Arme, um sich zu schützen, eine klare Grenze aufzubauen, - die hatte der andere gerade überschritten, überrannt. Er ist ihnen zu nahe getreten. Ihr Adrenalin ist leicht gestiegen, mündete je nachdem erst in Angst, dann in Ärger. Das kennen wir auch im übertragenen Sinne: "Jemand tritt mir zu nahe." Unser Gegenüber hat uns etwas vorgeworfen, hat uns eine unangenehme Wahrheit gesagt, etwas ins Gespräch geworfen, was wir als Zumutung auffassen. Wenn wir uns auf Stühlen gegenübersitzen, im Gespräch sind, werden wir wahrscheinlich keinen körperlichen Abstand suchen, indem wir aufstehen, hinter den Stuhl treten, zum Fenster gehen, im Raum auf und ab gehen: Dazu müsste der Ärger, die Verstörung sehr groß gewesen sein über das, was uns der andere an den Kopf geworfen hat. Aber wir verschränken vielleicht die Arme und/oder schlagen die Beine übereinander, bieten dem anderen nicht mehr die aufgeschlossene offene Front, sondern zeigen ihm eine kalte Schulter, dadurch, dass wir beginnen unseren Körper ins Profil zu drehen. Da wir kein Baum sind, der seine Stelle für immer eingenommen hat, müssen wir unsere Position ständig neu bestimmen, dynamisch, voller Risiko, in der direkten Kommunikation manchmal sogar im Sekundenabstand. Das läuft meist unbewusst ab, und das ist auch gut so.

G.L. Dann sollte es vielleicht unbewusst bleiben. Sie vermitteln aber verschiedenen Berufsgruppen Wissen darüber. Warum?

P.R.Beim Schauspieler ist es von Vorteil, über die Körpersprache, über die gestische Interaktion Bescheid zu wissen. Wenn ich einem Verhandlungspartner gegenübersitze, als Politiker, als Manager, wenn ich Verkaufsgespräche führe, kann es ebenfalls von Vorteil sein, dass ich weiß, was meine Körpersprache bei dem anderen auslöst und was mir die Gesten, die Mimik des anderen signalisieren. Dieses Wissen kann ich in Verhandlungen einsetzen, um einen Konsens zu erzielen, oder um einen Weg zu finden, meine Verhandlungsziele durchzusetzen. Auch in der Partnerschaft, Ehe oder Beziehung, sollten wir neugierig sein, welche kleinen körperlichen Signale wir aussenden, und was die bei unserem Partner auslösen. Da kann manchmal das Senken des Blickes, ein kaum merkliches Zusammenziehen der Mundmuskulatur, ein leichtes Drehen des Kinns oder der Schulter darüber entscheiden, ob der weitere Verlauf des Rendezvous rumpelig wird oder harmonisch. Hier kann ich lernen, welche Worte, welche Gesten dem Geliebten zu nahe treten, Grenzen einreißen, die der noch nicht aufgeben will, oder an diesem besonderen Tag nicht aufgeben will. Wir sind dynamische Wesen und keine Wesen, die nach Rezepten funktionieren, besonders nicht in Beziehungen, die auf Nähe aufgebaut sind: Partnerschaft, Eltern-Kind-Beziehung, Gruppendynamik in der Familie, unter Kollegen am Arbeitsplatz und so weiter.

G.L. Aber ich werde ja nicht in jedem Fall ausweichen, wenn mir jemand, wie sie es ausdrücken, zu nahe tritt. Was ist, wenn ich verliebt bin in die Person, die meine Grenzen überschreitet?

P.R. Ja, genau, dann werden sie es wahrscheinlich zulassen, werden die Arme öffnen und die Geliebte an sich ziehen. Jetzt wird auch Adrenalin frei, aber es mündet in Wohlgefühl, in Erotik, in ersehnte Zweisamkeit.

G.L. Beim Kampf stehen sich die Kontrahenten ja auch sehr nahe gegenüber. Ist da die Grenzüberschreitung eine bewusste Provokation?

P.R. Man kann sich zwei konkurrierende Manager vorstellen, die nah voreinander stehen und mit den Blicken ihre Kräfte messen. Wer blinzelt zuerst, wer lässt als Erster den Kopf leicht sinken, wessen Atem beginnt sich zu beschleunigen? Der schnelle Atem signalisiert Angst, das Blinzeln Nervosität, das Neigen des Kopfes bietet Unterordnung an. Oder zwei, die sich hassen, rennen aufeinander zu, um sich zu prügeln, und halten dicht voreinander inne, um abzuschätzen, zu wittern, wer den Kampf beginnt. Zucken in den Mundwinkeln, Veränderung im Atemrhythmus usw. spielen auch jetzt eine große Rolle für den Beginn des Kampfes und dessen Verlauf.